Das Weiße Pferd

Bauer Mustafa Mume bei der Kath-Ernte auf seinen Feldern in der äthiopischen Region Harar.

Bauer Mustafa Mume bei der Kath-Ernte auf seinen Feldern in der äthiopischen Region Harar.

Zwei Wachen lungern vor dem Eingang dieses flachen, grün gestrichenen Gebäudes. Einer spielt auf seinem Handy, der andere hat eine Kalashnikov über der Schulter. Auf der Wand neben ihnen prangt ein rosafarbenes Herz, drei geschwungene weiße Ziffern sind darüber gemalt: 725. Es sind die Kennziffern eines der größten Drogenimperien am Horn von Afrika. Faraska A’ad nennt es sich – "Das Weiße Pferd" auf Somali. Das Unternehmen handelt mit Kath, einer Kaudroge, die im de-facto Staat Somaliland fast jeder Mann konsumiert. Hier in der öden Hauptstadt Hargeysa hat Faraska A’ad seinen Hauptsitz. Über den Thresen vorne an der Straße sollen jeden Tag allein 800 Kilo Kath gehen. Faraska A’ad hat Dutzende Verkaufsstände in der Stadt, vermutlich Hunderte im ganzen Land. 

Fast vier Wochen habe ich entlang der Handelsrouten des Unternehmens recherchiert, wie die Logistik des Geschäftes mit der Droge funktioniert, welche Träume und Hoffnungen, welche Tragödien damit verbunden sind. Vor allem wollte ich die Menschen treffen, welche die Geschicke des legalen Drogengeschäftes steuern und dadurch zu Multimillionären geworden sind. Mittelsmänner, Fahrer und Zollbeamte haben mir hier und zuvor in Äthiopien immer wieder vom Mann an der Spitze von Faraska A’ad berichtet. Abdi Faras soll er heißen. Er ist einer der drei großen Spieler im Geschäft mit dem Kath. Auf der staubigen Straße vor dem grünen Gebäude steht ein dicker, weißer Geländewagen. Ich vermute, dass der Kath-Baron hier ist. Der Übersetzer, mit dem ich arbeite, bittet die Wachen mich zu ihrem Chef zu lassen. Durch die offene Tür höre ich konzentrierte Telefongespräche. Ich bin nervös.

Seit Jahren boomt der Handel mit Kath am Horn von Afrika. In Äthiopien, Kenia, Somalia und den meisten anderen Staaten hier ist es im Gegensatz zum großen Rest der Welt legal, aber es gibt Aktivisten, die dagegen kämpfen, weil es Menschen in Abhängigkeit und Lethargie treibe und größtes Wachstumshindernis sei. Aber würde der Handel jemals zum Erliegen kommen, würden nicht nur die Träume junger Männer auf großen Reichtum erlöschen und Familien ihre Lebensgrundlage verlieren, sondern ganze Staatsbudgets zusammenbrechen. 

Kath ist verderblich, nach zwei Tagen ist die Wirkung der grünen Blätter verflogen. An das Molekül Cathinon binden sich zwei weitere Wasserstoffatome und das schwächere Cathin entsteht. Das eine ähnelt Amphetaminen, das andere Koffein und zwei Tage nach der Ernte ist jegliche Wirkung aus den Blättern entwichen. Bei der Logistik kommt es vor allem auf Geschwindigkeit an. Menschen in Äthiopien nennen die weißen Kath-Transporter "Al Qaida", weil sie die Strecke aus dem äthiopischen Hochland, wo Kath angebaut wird, bis in die dürre Ebene Somalilands halsbrecherisch und rücksichtslos fahren und immer wieder Unfälle mit Todesfällen verursachen. Doch meine Recherche zum Netzwerk von Faraska A’ad begann Wochen zuvor in großer Trägheit in der Nähe der äthiopischen Stadt Harar. 

Der ANBAU

In einem kleinen, staubigen Dorf liegt Mustafa Mume auf dem Boden seines Lehmhauses. Er stützt sich mit einem Ellenbogen auf, kaut Blatt um Blatt, wartet, dass die Wirkung der Droge einsetzt und erst dann macht er sich auf zur Ernte. Mustafa zündet sich eine Zigarette an und geht zu seiner Plantage. Graue Wolken kündigen Regen an. Wenn die Sonne durchbricht, glitzern unten im Tal die Überreste des Haramaya Sees. Seine Plantage ist so groß, sagt er, dass er sie mit acht Kühen an einem Tag pflügen könnte, wären da nicht diese Büsche – mannshoch, weit verzweigt, dunkelgrün – die jedes Pflügen unmöglich machen und besser noch: unnötig.

In alle Himmelsrichtungen ziehen sich Kath-Büsche bis zum Horizont. Mustafa kämpft sich durch das Dickicht, geht die Büsche ab. Die Blätter in seinem Mund hat er zu einem grünen Brei zerkaut, der auf seinen Lippen klebt. Er klemmt sich die Zigarette in die Lücke zwischen seinen Schneidezähnen. Sein Blick sucht nach den Zweigen mit den jungen, zarten Blättern, die innen hellgrün und an den Rändern rostrot sind wie die Triebe, an denen sie wachsen. Wenn er sie gefunden hat, kappt er sie mit seiner Sichelsäge.

Mustafa erntet immer nur so viel, dass der Nachschub nie versiegt. Zurück im dunklen Wohnzimmer des Lehmhauses sortieren seine Frau, Kamaro und ihre Töchter schon die Ernte, die er am Morgen eingebracht hat. Sie streifen die harten, dunklen Blätter am unteren Ende der Triebe ab, am oberen Ende knipsen sie sie mit den Fingerspitzen heraus. Mustafa lädt die Zweige ab und steckt sich mehr Blätter in den Mund. Sein Gebiss zeugt von Jahrzehnten des Kauens. Sein Zahnfleisch hat sich zurückgezogen. Kath ist sein Leben. Die Droge brachte Geld und Liebe und soll schließlich seine Kinder aus diesem Leben befreien. 

Mustafa rannte seinem Vater als Kind aufs Feld hinterher, schaute sich das Handwerk von ihm ab. Damals gab es hier noch keine Kath-Büsche und sie hatten kein Geld, erinnert sich Mustafa, aber das Leben sei wunderbar gewesen. Der Vater baute Sorghum an, Mais und Gemüse. Damit nährte er seine Familie. Vier Söhne zeugte er. Einer starb, drei blieben. Mustafa, seine Brüder und ihr Vater sahen, wie andere Bauern mit Kath Geld verdienten. Sie entschieden, das Gleiche zu tun. 

Mustafa und Kamaro, 50 und 45 Jahre alt, haben vor ungefähr 30 Jahren geheiratet, ganz genau wissen sie das nicht. Er hat sie damals unten im Dorf gesehen. Kamaro sei jung gewesen, sehr jung. Als sie zur Mühle ging sprach er sie an. "Ich liebe dich. Was denkst du darüber", fragte er und sie ging einfach davon. Später, erinnern sie sich, ging Mustafa zu ihrem Vater, brachte einen Büschel Kath mit und hielt um sie an. Sechs Monate später, ohne dass sie vorher miteinander gesprochen hatten, heirateten sie. 

Als der Vater zehn Jahre später starb mussten die drei Brüder das Land des Vaters unter sich aufteilen. So ist das hier üblich. Und so werden die Parzellen von Generation zu Generation kleiner und das Auskommen für die Bauern immer schwieriger. Einen Viertel Hektar haben sie heute im Schnitt. Nicht genug, um mit Sorghum, Mais oder Kartoffeln ein Auskommen zu sichern. Kath ist oft die einzige Option. Es ist anspruchslos und einmal gepflanzt wächst es einfach.

Mustafa und Kamaro bekamen elf Kinder, sieben Mädchen und vier Jungen. Die Pflanze brachte ihnen bescheidenen Reichtum. Kath sei Geld, sagt Mustafa und das habe ihr Leben verändert. Kamaro und er konnten Häuser bauen, einen Brunnen graben, ihre Kinder auf eine andere Zukunft hoffen lassen: Lelisto, 15, will Ingenieurin werden, Biftu,14, träumt von einer Zukunft als Ärztin. 

Wenn die Sträucher genug Wasser haben, regenerieren sie sich die erntereifen Triebe vier Mal im Jahr. Doch seit zwanzig Jahren regne es weniger und weniger, sagt Mustafa. Deshalb braucht es Brunnen, die dem See das Wasser rauben. Früher stolzierten dort unten Flamingos, schipperten Ausflugsboote Liebespaare umher, badeten Kinder. Dann kamen die Plantagen, der Regen blieb dürftig und der See verschwand. Versuche, ihn wieder zum Leben zu erwecken, scheiterten. Wenn das Wasser zurückkam, pumpten die Kath-Bauern es ab. Doch in diesem Jahr habe es viel geregnet, sagt Mustafa. Es sei ein gutes Jahr gewesen.

Kamaro zurrt Bündel der B-Ware der Ernte in einem grünen Tuch zusammen, zieht sich eine sonnengelbe Abaya über, balanciert die Fracht auf ihrem Kopf und geht mit ihrer Tochter Biftu auf den Markt im Dorf. Die guten Bündel verkauft die Familie für den Export. In der Nacht wird ein Lastwagen zu ihm kommen, eingepackte Säcke aufladen, über Feldwege hinunter nach Awaday fahren und sie im Umschlagplatz von Abdi Faras abladen.  

Der Umschlag

Die Sonne ist über den Hügeln des äthiopischen Hochlandes versunken, das Dorf Awaday erwacht zum Leben. Es erstreckt sich zweieinhalb Kilometer entlang der Landstraße A10. Es gibt einen Fußballplatz, eine Schule und viele Moscheen. Gibt man seinen Namen in Onlinekarten ein, landet man nirgends. Doch wahrscheinlich gibt es keinen anderen Ort, der die Wirtschaft am Horn von Afrika so entscheidend bestimmt wie Awaday. In den Stunden bis zum Morgengrauen wird sich hier alles um die Droge drehen. Pickups, Kleinbusse und Lastwagen beladen mit Kath drängen sich durch die Straßen vorbei an Rikschas und Straßenhändlern. Männer mit Büscheln auf den Schultern schlängeln sich durch die Gassen, Buchhalter berechnen Einkäufe und Verkäufe, Bäuerinnen bringen ihre magere Ernte an den Mann. 

Von der A10 biegt eine breite, gepflasterte Straße hinab in ein Gewirr von wellblechbedeckten, einstöckigen Lehmhäusern. Ein fünf Meter hohes Tor führt in eine offene Halle. Sie ist mit Wellblech ausgekleidet, dürre Holzstämme stützen sie. Es riecht nach Eukalyptusblättern und dem säuerlichen Duft des Kaths. Wenn man der Halle nach rechts folgt, gelangt man niedrigere Räume eines einstigen Wohnhauses. Hunderte Männer verarbeiten jede Nacht tonnenweise Kath, schwitzen auch in kühlen Nächten. 

Die Räume sind in warmes Licht getaucht. Jeder hat seine Funktion: Im ersten findet erst der Einkauf statt, dahinter folgt ein Zimmer, in dem sechs Buchhalter gebeugt über Kladden sitzen und konzentriert jeden Einkauf vermerken, in den anderen sitzen hunderte Männer im Schneidersitz auf dem Boden und arbeiten im Akkord. In immer den gleichen Bewegungen kappen, sortieren, bündeln, packen und wiegen sie die Kath-Zweige. Pausen gibt es nur für das Gebet. Bis zu 290.000 Euro Umsatz machen sie hier jede Nacht. Es ist einer der größten Umschlagplätze der Stadt, Knotenpunkt von Abdi Faras Kath-Imperium.

Am Eingang des Einkaufsraums lehnt Haji Ismael an einer Wand, redet nur, so viel er muss und bringt das Gewirr des Ortes in geordnete Bahnen. Haji, einer von Abdi Faras’ drei Einkäufern, ist untersetzt, hat ein rundes Gesicht, das von Kinnbart und Glatze eingerahmt ist. "Geht raus, da kommt eine neue Lieferung", ruft er zum Tor hinüber. Draußen rangiert ein Lastwagen vor das Tor. Packer laden Kath ab. Im Einkaufsraum stapeln sie die Bündel mannshoch. Haji prüft jeden genau. Gut drei Kilo wiegen sie. Ein Bündel Urata, wie sie die beste Qualität nennen, bringt rund 160,- Euro. 

Eine Frau in einer schwarzen Abaya ringt um Hajis Aufmerksamkeit.

"Hast du nicht gesehen, was ich gebracht habe", sagt sie. 

"Fünf Kilo."

"Nein, es war mehr", beschwert sich die Frau. 

"Nimm das erstmal."

Haji notiert das Gewicht des Kaths und ihren Namen auf einem Pappzettel und drückt ihn der Frau in die Hand. Es ist eine Art Scheck, den sie im Hinterzimmer bei den Buchhaltern einlösen kann. Bündelweise lagert das Geld dort in einem speckigen Tresor.

Haji ist einer der Profiteure des Booms, den das Geschäft mit dem Kath in den vergangenen Jahrzehnten erlebt hat. Anfang der 80er Jahre hat Äthiopien 1.380 Tonnen Kath exportiert. 2017 waren es 48.818 Tonnen. 35 Mal so viel. Heute ist Kath das fünftgrößte Exportgut des Landes und Äthiopien größter Exporteur der Welt. Haji beendete die Schule nach der sechsten Klasse, arbeitete danach auf der Plantage seiner Familie nahe der Grenze zu Somaliland. Doch in der Gegend ist das Klima trocken und das Kath bleich und minderwertig. Vor 20 Jahren suchte er dann sein Glück hier in Awaday, arbeitete sich vom Sortierer, zum Buchhalter und schließlich zum Einkäufer hoch. Er sagt, "ich mache eine Menge Geld." Sagt, dass er von vielen Häusern träume und einer besseren Zukunft für seine neun Kinder. Nur nicht im Kath-Geschäft, denn das mache Menschen zu Süchtigen.

Lange war die Äthiopierin Suhura Ismail die unangefochtene Kath-Königin. Kennnummer 571. Sie lernte das Geschäft am Straßenstand ihrer Eltern, heiratete einen Mann aus Somaliland, startete mit ihm ein Exportgeschäft, konsolidierte Einkauf, Transport und Verkauf und gründete schließlich eine Fluglinie für den Transport. In einem Interview prahlte sie 2011 mit ihrem guten Draht zum damaligen Premier. Aber ihr Stern ist gesunken. "Ihr Kath ist wie Dreck", sagt Haji Ismael, sie handele nur mit billigster Ware. Die einzige ernsthafte Konkurrenz sei eine andere Frau, sagt ein Kollege von Haji: Amina Gaafane. Kennnummer G99 – G für ihren Vornamen, die Zahl für die 99 Namen des Propheten Muhammed. Sie lebt in Somaliland. Ich hoffe, dass sie mir Einblick in ihr Geschäft gewährt. Vor allem aber will ich Abdi Faras sprechen. 

Wenn man hier nach ihm fragt, sind die Antworten preisend. Er sei ein guter Mann, eine Million Menschen arbeiteten für ihn – mindestens! – aber er sei seit zwei Jahren nicht hier gewesen. Damals, 2017, gab es gewaltsame Unruhen in der Gegend: Die Volksgruppe der Oromo gegen die Volksgruppe der Somali. Hunderte starben. Aufständische massakrierten somalische Kath-Händler. Der Handel brach ein. Haji und seine Männer managen jetzt das Geschäft hier und halten mit Mobiltelefonen Kontakt zu ihrem Boss. 16 Tonnen Kath senden sie jede Nacht in Richtung Somaliland. Haji verspricht mir, dass ich mit einem der Lastwagen in Richtung Hargeysa mitfahren darf. 

Die verarbeitung

Im höher gelegenen Teil Awadays haben die meisten Mittelständler der Kath-Industrie ihren Sitz. Aus den Betonbauten, Wellblechhütten und Lehmhäusern operieren Unternehmen mit ein paar Dutzend Mitarbeitern, meist geführt von Äthiopiern, die vor allem für den hiesigen Markt kaufen, sortieren und weiterverkaufen.

In einem blau gestrichenen Lehmhaus, im schwachen Licht einer LED-Lampe sitzt ein Junge mit leerem, glasigem Blick auf dem Boden, Schweißperlen sammeln sich über seiner Oberlippe. In seiner schwieligen Rechten hält er eine abgenutzte Gartenschere. Der Junge nimmt ein Bündel mit seiner linken Hand, steckt einige der holzigen Enden der Triebe zwischen die Scherenblätter und lehnt sich mit dem Gewicht seines dürren Körpers auf den Griff. 

Hamza ist zwölf Jahre alt. Sein Arbeitstag beginnt morgens um acht und endet abends um zehn. Seit sechs Monaten macht er das jeden zweiten Tag. Er war nie zu spät, sagt er, habe nie einen Tag verpasst. Hamza macht einfache Arbeiten, schleppt und schneidet, bekommt dafür drei Euro pro Tag. Er ist Teil eines Kollektivs von fünf Männern und einem Kind mit harten Regeln: Wenn Hamza sich hochgearbeitet hat wird er jeden Tag garantiert sechs Euro machen, wenn das Geschäft besser läuft, gibt es mehr. Kath gibt es umsonst obendrauf. Doch wer ein Mal fehlt, fliegt raus. Arbeitskräfte gibt es genug.

Hamza erzählt mit brüchiger Stimme. Er lerne dieses Handwerk, um seine Mutter zu unterstützen. Sein Vater sei vor zwölf Jahren von der Böschung eines Sees abgerutscht und ertrunken. Die kleine Plantage, die seine Mutter von ihrem verstorbenen Ehemann geerbt hat, reicht nicht zum Leben. Hamzas Onkel, der Bruder seines Vaters, helfe. Trotzdem bleibt das Geld knapp. Bis zur vierten Klasse ist er in die Schule gegangen, hat sie abgebrochen, damit er seiner Mutter jeden Monat ein bisschen schicken kann – rund elf Euro alle zwei Monate.

Ich verabrede mich am nächsten Tag mit ihm, um zu seiner Mutter zu fahren. Er hat sie nicht mehr besucht, seitdem er seinen Job angefangen hat. Wir fahren von Awaday Richtung Norden durch zersiedeltes Land. Die Straßen werden schlechter je näher wir seinem Heimatdorf kommen. Am Ende kommen wir selbst mit der erstaunlich geländegängigen Rikscha nicht weiter. Hamza springt heraus und geht zielstrebig die Feldwege hinauf zu seinem Haus. Doch niemand ist daheim. "Deine Mutter ist arbeiten", sagt ihm ein Nachbarsmädchen. Sie sei zum Waschen an einen Fluss gegangen, kommt erst am Abend wieder.

Hamzas Onkel, ein dürrer Mann mit hohen Wangenknochen, kommt den Berg herauf auf den Vorhof des Hauses. Hamza schweigt und wendet sich ab. 

"Warum begrüßt du mich nicht", fragt der Onkel. "Du starrst mich nur an."

Hamza antwortet nicht.

"Hat deine Mutter dir gesagt, dass du mich nicht begrüßen sollst?"

Der Mann, stellt sich heraus, ist nicht nur sein Onkel – sondern inzwischen auch sein Stiefvater, hat zwei Kinder mit Hamzas Mutter. 

Hamza setzt sich gegenüber dem Hause seiner Familie auf den Boden, flippt apathisch Steinchen über den staubigen Vorplatz. Wir entschließen uns zurück nach Awaday zu fahren. "Er macht mir grenzenlos Vorwürfe", sagt er später über seinen Stiefvater. Würde er zurück zu seiner Familie, wenn er genug Geld hätte, hier zur Schule gehen? Nein, sagt Hamza. Sein Leben ist in Awaday. Er ist nicht dem Lockruf großen Reichtums dorthin gefolgt. Kath hat seine Flucht ermöglicht, die Flucht vor einem Leben mit einer Mutter, die er liebt, und einem Stiefvater, den er verachtet.

Die Geschichte

Die Straßen Harars, der Hauptstadt der Region um Awaday, sind leer und dunkel, anders als in dieser Legende: Der Prophet Muhammed soll während einer nächtlichen Reise durch den Himmel einen leuchtenden Fleck auf der Erde gesehen haben. Er habe seinen Reisegefährten, den Engel Gabriel, gefragt, was dort sei. Dieser habe geantwortet: Harar, die Stadt der 355 Heiligen.

In einem Hinterhof nahe des Schreins Abadirs, des obersten dieser Heiligen, flackert in dieser Nacht ein Feuer. Ein Mann sitzt unter einer Pappel, wärmt rindledernde Trommeln und schiebt sich Kath-Blätter in den Mund. Aus dem Hof führt eine Tür in einen gelbgestrichenen, von einer einsamen Birne beleuchteten Gebetsraum. In einer Ecke sitzt Scheich Amir Radwan in rot-weißen Kopftuch, braunem Jacket und einem hellblauen Gewand, umringt von Gebetsbüchern und Plastiktüten voller Kath. Er wird sein Gefolge durch die Nacht führen, mit ihnen singen, tanzen, beten, rauchen, kauen, die Seele reinigen, wie er sagt, nicht den Körper. 

Ein gutes Dutzend sind sie heute. Zwei alte Frauen in pinken Gewändern sind darunter, ein Obdachloser mit verkümmerten Armen und Beinen, ein anderer Scheich. Diese Suchenden haben ihre Antworten im Sufismus gefunden, einer heiligenverehrenden, liberalen Interpretation des Islams. In konservativen Strömungen gelten sie als Ungläubige. Sie treffen sich jeden Donnerstag, aber diese Nacht ist besonders – sie geht dem Geburtstag des Propheten voran. Ich setze mich dazu.  

Der Scheich zupft Blättchen von einem Zweig Kath, behält zwischen Daumen und Zeigefinger, preist Allah, steckt sich die Blättchen in den Mund, bewegt seine Hände in einer Gebetsgeste unter seinen Mund, rezitiert koranische Verse, streckt die Hände gen Himmel und ruft Amen. Sein Gefolge stimmt ein, erratisch, jeder für sich. Der Scheich nimmt die Führung wieder auf, gibt Verse vor, sein Gefolge stimmt ein, diesmal rhythmisch, harmonisch, alle zusammen. Schließlich zieht der Scheich die Verse in die Länge, wird langsamer und schließlich endet der Gesang in einem Gewirr von Lobpreisungen. 

"Wirst du auch kauen", fragt er mich. 

"Ich werde auch kauen", antworte ich. 

Bis jetzt habe ich aus Höflichkeit und um Vertrauen aufzubauen gekaut. Der Geschmack war mir unangenehm, den grünen Brei für Stunden im Mund zu halten auch. Heute Nacht ist aber auch der Versuch, die Droge zu verstehen, denn obwohl ich Dutzende wissenschaftliche Artikel über Kath gelesen habe und mich die vergangen zwei Wochen mit kaum etwas anderem beschäftigt habe, fällt es mir immer noch schwer zu beschreiben, was die Droge eigentlich bewirkt.

Der Scheich scheint sich in der Rolle des Stadtphilosoph von Harar zu gefallen. Er wägt jede Antwort lange ab, trinkt von seinem Gebräu aus den Schalen von Kaffeebohnen, reibt sich mit der Hand über seinen krausen, langsam ergrauenden Kinnbart und antwortet dann in Rätseln. Wer er ist? "Ich bin nur mein Name, der Rest ist Er." Wie er Scheich geworden ist? "Im Tabloid deiner Taten ist alles geschrieben." Wie Kath nach Harar gekommen ist? Er zieht an seiner Zigarette, sucht mit seinen Augen die Decke ab, bläst den Rauch nach oben, sagt, dass er lange ausholen müsse und vertröstet auf ein Später, das nie kommen wird. 

Genau kennt die Geschichte des Kaths niemand. Es gibt eine Legende nach der ein jemenitischer Bauer, beobachtet hat, wie seine Ziegen Kath fressen und danach aufmerksam waren wie nie. Der Bauer hat es ihnen nachgetan und Blätter gekaut. Er konnte die kommende Nacht nicht schlafen, aber dafür stundenlang beten und meditieren. Nach einer anderen Legende sollen vor fünfhundert Jahren 44 islamische Gelehrte aus dem Jemen im heutigen Somaliland gelandet sein und auf Mission in das Land hinausgezogen sein. Einer von ihnen soll erst den Islam nach Harar gebracht haben und vom hier heimischen Kath so angetan gewesen sein, dass er es zurück in den Jemen brachte. Sicher ist, dass Kath tief mit ihrer Religion verbunden ist. Heute sind es vor allem Muslime die Kath konsumieren. Wahrscheinlich auch, weil Alkohol für sie als Sünde gilt.

"Deine Feudalherren arbeiten nicht zur gleichen Zeit," sagt der Scheich und ich bin verwirrt. Er deutet mit seinem Zeigefinger an seine Schläfe, dann wandert die Hand an seinem Körper herunter. "Dein Gehirn und dein Penis arbeiten nicht zur gleichen Zeit." Die Libido, so verstehe ich ihn, störe nur, wenn man sich auf die Worte des Korans konzentriere.

Ein Junge kommt vom Einkauf mit einer Tüte voller Kath und Zigaretten zurück. "Wie viel hast du bezahlt", fragt der Scheich. "80 Birr pro Person." Ich rechne und merke, dass ich mehr als das sechsfache dazu gesteuert habe. Es ist billige Ware für den lokalen Markt, kaum junge, hellgrüne Blätter. Haji würde es wohl als Dreck bezeichnen. Ich zupfe Blätter von den traurigen Zweigen. 

Ein Mann bringt die Trommeln, die draußen wärmten, herein, ein anderer verteilt Holzklötze. Die Musik beginnt. Der Scheich schiebt seine untere Zahnreihe nach vorne, hält sich einen Holzklotz vor sein Kinn wie ein Mikrofon, singt vor. Sein Gefolge singt ihm nach. Sie schlagen im Takt die Klötze gegeneinander. Es schallt schmerzhaft laut. Eine der Alten steckt sich Kath-Blätter unter ihr Kopftuch. Die Musik ebbt ab und es folgt eine Zigarettenpause, in der wenig gesprochen wird. Die Nacht geht voran. Laute Musik folgt schweigsamen Pausen. Draußen bellen Hunde, zirpen Zikaden, streunen Hyänen durch die Straßen. Ich kaue und kaue und spüre: Nichts.

Vielleicht ist das ein Grund für den Erfolg von Kath. Weil die Droge so mild ist, konnte sie ein solch zentraler Teil der Kultur hier werden. Wäre die Droge so schädlich wie Heroin, Kokain oder gar Alkohol stände sie ihre Ausbreitung selbst im Weg. Kath, sagt der Scheich, sei weniger wichtig als das Zusammenkommen. Es gehe darum, eine gemeinsame Erfahrung zu machen. Worauf diese Erfahrung beruhe, ist nachrangig. Auf eine Weise ist Alkohol das Kath des Westens: eine soziale Droge, die Menschen zusammenbringt, aber übermäßig konsumiert Zusammenhalt zerstört. Kath hat allerdings deutlich weniger Potential zu letzterem. In einer medizinischen Studie zur Schädlichkeit von zwanzig legalen und illegalen Drogen landete Alkohol auf dem fünften Platz – Kath auf dem letzten.

Inzwischen sind sieben Stunden des Singens, Kauens und Rauchens vergangen. Die Nacht geht ihrem Höhepunkt entgegen. Die Musik wird lauter. Der Scheich übernimmt die Trommeln. Einer der Obdachlosen klatscht, wirft seinen Kopf herum, wippt mit seinem Körper auf und ab. Er fasst die linke Hand des Mannes mit den verkümmerten Armen und Beinen, breitet seine Arme aus und richtet die Handflächen preisend nach oben. Die Frauen springen auf, tanzen sich voran zu den Männern an der Türe. Der Scheich springt in seiner Ecke auf, breitet die Arme aus, lässt seine Hände schlaff hängen, springt auf der Stelle. Ich tanze mit. Eine Alte im pinken Gewand ist mir gegenüber. Sie kneift ihre dunklen Augen zusammen, schreit trillernd. In ihrer knorrigen Hand hält sie zwei Holzklötze. Sie schleudert ihren Arm nach vorne, aggressiv, immer wieder in meine Richtung, als wenn sie mich verwünschen wollte. Und dann endet die Musik und es kehrt Ruhe in den Gebetsraum. Von draußen ruft der Muezzin zum Morgengebet. Die Nacht endet. 

Durch die menschenleeren Gassen Harars gehe ich zu meinem Hotel zurück. Ich lege mich hin, dämmere in das Morgengrauen hinein und wache nach einer Viertelstunde wieder auf. Den ganzen Tag bekomme ich die Augen nicht zu. Die folgende Nacht wälze ich mich mit Gliederschmerzen umher, wache immer wieder auf. Kath ist nicht meine Droge. 

Der Transport

Am Abend zwei Tage später fahre ich zurück zu Abdi Faras’ Umschlagplatz. Am Rande des Eingangstors fläzt sich der Fahrer, mit dem ich nach Hargeysa fahren soll. Abdi Adam heißt er, 33 Jahre alt, kompakte Statur, rundes Gesicht, fliehende Stirn. Er kaut sich für die Abfahrt warm, beobachtet wie die Arbeiter Säcke auf seinen Transporter laden, bellt ihnen Anweisungen zu, die sie überhören. Ich habe ihn an einem Abend zuvor getroffen. Er hatte mich zu sich rüber gerufen. Abdi der Boss habe ihm, Abdi dem Fahrer, vor 17 Jahren zu seinem Job verholfen, hatte er mir erzählt. Er brauchte Arbeit, wie gefährlich sie ist, war zweitrangig. 

Ich habe mehrere Nächte hier verbracht, mit Buchhaltern und Sortieren gesprochen. Sie waren beschäftigt, haben sich aber Zeit für mich genommen, wenn es der Betrieb zuließ. Doch an diesem Abend ist die Stimmung anders. Nein, sagt einer der anderen Einkäufer, der mich immer mit einem breiten Lachen, Handschlag und Umarmung begrüßt, ich könne doch nicht mitfahren. Der Chef habe es verboten. Ich bleibe noch eine Weile, versuche sie umzustimmen. Dann kläfft mich ein Mann vorne am Eingang an: Ich solle verschwinden. Ich warte vor dem Tor auf Abdis Abfahrt, versuche ihn im letzten Moment abzupassen. 

Ein paar Stunden später steigt Abdi in die Fahrerkabine, startet den Motor. Träger hieven den letzten Plastiksack auf die Ladefläche. Rund zwei Tonnen haben sie aufgeladen, Straßenwert 28.000 Euro. Kommt Abdis Ladung zu spät an, ist sie nur mehr Ziegenfutter. Ich bitte ihn mitfahren zu dürfen, doch Abdi ignoriert mich, drückt aufs Gas und startet ein gefährliches Rennen gegen den Verfall. Sein blendendweißer Lastwagen mit den Flügeln über den Türen, den grünen Positionslichtern und den drei geschwungenen Ziffern auf der Windschutzscheibe reagiert laut und träge. Abdi manövriert ihn die Pflastersteinstraße hinauf durch die Menschenmenge. Es ist laut, voll und stinkt nach verbranntem Plastik. Abdi biegt nach rechts auf die Hauptstraße, nimmt Fahrt auf. Der Übersetzer, mit dem ich arbeite, und ich springen in ein Auto und rasen Abdi hinterher. 

Der beinahe volle Mond zeichnet die Konturen der Berge und Wolken gegen den tiefblauen Himmel ab. 750 Kilometer muss Abdi heute Nacht fahren, eine Grenze und zwei Zollstationen passieren. Schlafen wird er nicht. Das Kath, hat er erzählt, hält ihn wach und warm, wenn ihm der kalte Wind der Nacht entgegen peitscht. Hinter Harar geht es aus der fruchtbaren äthiopischen Hochebene hinunter Richtung Somaliland. Die Kath-Plantagen weichen flachen, staubigen Landschaften. Abdis Positionslichter verlieren sich in der Dunkelheit. Wir kehren um. Am nächsten Morgen mache ich mich auf eigene Faust auf den Weg nach Hargeysa.

Die Grenze

An einem Morgen ein paar Tage später treffe ich Abdi in der somalilandischen Stadt Kalabaydh wieder. Dieses Mal fläzt er sich auf dem Boden eines Mafrish, wie sie hier die Kath-Cafes nennen. Gegenüber ist die Zollstation, durch die das gesamte Kath geht, das nach Somaliland importiert wird. Abdi wartet auf die morgendliche Lieferung aus Awaday. Heute muss er nicht die ganze Strecke fahren, sondern übernimmt die Ladung von einem anderen Fahrer. Abdis Telefon klingelt: Die Lieferung kündigt sich an.

Draußen manövriert der Lastwagen aus Awaday hinter die Wiegestation. Sie ist nicht mehr ist als ein Betonfundament, ein paar Säulen, ein Wellblechdach und eine große Waage. Männer laden die Säcke vom LKW auf die Waage. Daneben sitzen Zöllner und führen Buch über den Import – auf jedes Kilo Kath fallen rund zweieinhalb Dollar Einfuhrzoll an. 40 Millionen Dollar hat Somaliland 2018 so eingenommen. Die gesamten Staatseinnahmen betrugen gerade 157 Millionen.

1983, als Somalia und Somaliland noch eins waren, verbat Diktator Siad Barre Kath. Auf den Besitz standen zehn Jahre Gefängnis. Kath-Felder in Somalia brannte er mit Napalm nieder. Trotzdem kauten somalische Männer und das Verbot führte zu einem regen Schmuggel. Es waren oft Frauen, die Kath-Bündel unter ihrer Kleidung versteckten und sie so über die Grenze brachten. Somalia entgingen Millionen an Zolleinnahmen. Erst mit dem Ende des Bürgerkrieges und der de-facto Unabhängigkeit von Somaliland wurde es wieder legal.

In Europa war das Vereinigte Königreich eines der letzten Länder, in dem Kath legal war, und wohl auch der größte Absatzmarkt auf dem Kontinent. In London gab es äthiopische Mafrishs, jemenitische, somalische. Das britische Advisory Council on the Misuse of Drugs, eine Art Enquete-Kommissionen für die rechtliche Klassifizierung von Drogen, kam 2013 zu dem Schluss, dass es keine Beweise für signifikante Gesundheitsschäden durch Kath gebe, und dass es nicht zu organisierter Kriminalität oder sozialen Problemen führe. Die Kommission empfahl, dass Kath legal bleiben soll. Im Jahr darauf tat die konservative Regierung das Gegenteil.

Das Verbot hat den Kath-Schmuggel in Europa explodieren lassen. 2013 griff der Frankfurter Zoll 149 Kilo Kath auf, 2018 waren es viereinhalb Tonnen. Das Gewicht steht in keinem Verhältnis zum Erlös: die aufgegriffene Menge bringt vielleicht 300.000 Euro. Vergangenes Jahr hat der Hamburger Zoll eine Rekordmenge Kokain sichergestellt. Ebenfalls rund viereinhalb Tonnen. Verkehrswert: Eine Milliarde Euro. Allein wegen des wenig lukrativen Geschäftsmodells wird Kath wohl nie den Weg in die westliche Mehrheitsgesellschaft finden, wie es Marihuana oder Kokain geschafft haben.

An der Wiegestation laden schwitzende Männer die Säcke auf Abdis Lastwagen. Als der letzte Sack verladen ist, springt ein Mann springt oben auf. Abdi rast los. Er lässt mich ein Stück mitfahren. Es geht zunächst über staubige Feldwege. Zwei Frauen auf einer Kutsche treiben ihren Esel an, um Abdi im letzten Moment aus dem Weg zu gehen. Vor einem Monat ist ein Kath-Truck frontal in einen Bus gerast: 13 Verletzte, elf Tote. Abdi biegt auf eine perfekt geteerte Straße ab. In den Dörfern auf dem Weg nach Hargeysa fährt er kurz langsamer, und der Mann auf der Ladefläche schmeißt Säcke vor die Füße von Kath-Händlern am Straßenrand. Dann beschleunigt Abdi wieder. 

Sein Ziel, Hargeysa, ist eine öde Stadt umgeben von schroffem Land. Im Bürgerkrieg bombardierte Siad Barres Luftwaffe die Altstadt. Heute dominieren billige Betonbauten. Hargeysa soll der größte Kath-Markt am Horn von Afrika sein. Es gibt nicht einen zentralen Ort, sondern hunderte Verkaufsstände, die über die Stadt verteilt sind. Die meisten tragen die Erkennungsnummern von Suhura Ismail, Amina Gaafane und Abdi Faras. Wenn frisches Kath aus Äthiopien ankommt drängen sich Männer an den Ständen, um die tägliche Ration der Droge zu kaufen.  

Der Boss

Mein Übersetzer sagt, dass es kein Problem sei, Abdi Faras zu treffen. Ein Freund sei ein enger Vertrauter von ihm. Seine Telefonnummer habe der Übersetzer schon. Wir fahren durch die staubigen Straßen des Zentralmarktes als er sie wählt. "Hallo! Abdi Faras", fragt er. "Mein Name ist nicht Abdi Faras. Nenn mich nicht so!" Das Gespräch wird laut, mein Übersetzer versucht sich zu rechtfertigen. Der Mann am anderen Ende der Leitung hängt auf. 

Wir fahren wir zur Hauptfiliale seiner größten Konkurrentin Amina Gaafane. Ihr Geschäft geht längst über den Verkauf von Kath hinaus. Sie besitzt eine Tankstelle und das Energieunternehmen Gaafane Power Co⁠. Hinter dem Tresen des Verkaufstands im Zentrum Hargeysas sitzt eine ältere Dame im geblümten Gewand auf dem Boden und sortiert Kath. Als der Übersetzer ihr erklärt, dass wir Journalisten seien, schickt sie uns mit einer Handbewegung weg. „Wir reden nicht mit der Presse.“ Ob wir irgendwie direkt mit Gaafane in Kontakt treten könnten frage ich den Übersetzer. „Das ist Gaafane“, antwortet er. Ich glaube zuerst, dass ich ihn falsch verstanden habe. Aber er wiederholt es. Die alte Dame in dem geblümten Kleid, die persönlich Kath sortiert und verkauft ist Amina Gaafane – wahrscheinlich die erfolgreichsten Geschäftsfrau in Somaliland, Multimillionärin.⁠

Der Grund für die Verschwiegenheit liegt wahrscheinlich daran, dass zwar an jeder Ecke gekaut wird, aber auch hier ein Kulturkampf um die Droge geführt wird. Anti-Kath-Aktivisten haben in der Stadt ein Plakat aufgehängt. Ein Mann mit kaputten Zähnen kaut darauf Kath, das offenbar nachträglich digital eingefügt wurde. "Iss nicht, es ist eine Sünde", steht darüber. Einer dieser Aktivisten ist Said Yusuf, 65 Jahre alt, feines Gesicht und krauser, ergrauend Bart. Said trägt die Kluft frommer Gelehrter: bodenlanges Gewand und eine krempenlose Kappe. Alle seine Vorbilder hätten gekaut als er jung war, sagt er. Doch Said sah, wie die Droge ihre Narben in der Gesellschaft hinterlässt: Männer, die in Abhängigkeit geraten, ihre Familien vernachlässigen, ihr Geld für Kath rausschmeißen anstatt den Kindern essen zu kaufen. Vor fünf Jahren gründete er eine Organisation, um das zu ändern. Said ist ihr Präsident.

"Die schauen nur noch Profit, denen geht es nicht um die Menschen", sagt Said über Abdi Faras und die anderen Kath-Händler. Aber Said, selbst Geschäftsmann, Besitzer von 44 Kamelen und einem Thunfischboot, sagt auch, er könne sie nicht dafür verantwortlich machen, dass sie ihrem Geschäft nachgehen, schließlich sei es legal und nur der Koran verbiete es. Zu dessen Zeit gab es zwar noch kein Kath, aber dafür Alkohol und wie bei dem überwögen beim Kath die Nachteile also sei auch Kath eine Sünde.

Said hat sich mit Ministern getroffen, mit dem Bürochef des Präsidenten. "Sie sehen das Problem", sagt Said, "aber sie können es nicht stoppen." Er weiß, dass so wie ein Alkohol-Verbot in Europa undenkbar ist, ist es hier ein Kath-Verbot. Nicht nur, weil es so tief in der Kultur verankert ist, sondern fast ein Viertel der Staatseinnahmen daran hängen.

Über einen Kollegen in Deutschland bekomme ich die Nummer des Sohnes des Vizepräsidenten von Somaliland. Als ich anrufe hat der Sohn hörbar den Mund voll – Kath, nehme ich an. Ob er Abdi Faras kennt und mich mit ihm in Kontakt setzen könne, frage ich. Kein Problem, er kenne ihn gut. Ob ich noch Minister treffen will? Vielleicht den Vizepräsidenten? Nein, nur Faras. Er kündigt sich für den nächsten Morgen an, taucht zum verabredeten Zeitpunkt nicht auf, entschuldigt sich für die Verspätung und geht die nächsten Tage nicht mehr ans Telefon.

Es bleibt noch der direkte Weg. Wir fahren zu Abdi Faras’ Hauptfililale, zu dem grünen Gebäude mit den Wachen vor der Türe. Mein Übersetzer verhandelt mit den Wachen. Ob Abdi Faras denn zu sprechen sei, fragt er. "Der ist die letzten drei Nächte hier gewesen, keine Ahnung, ob er heute kommt oder nicht", sagt der Mann mit der Waffe. Mein Übersetzer erzählt ihm, dass ich Journalist aus Deutschland sei. Der Bewaffnete lässt sich schließlich überzeugen und uns ins Hinterzimmer. An den Wänden das pinke Herz mit den drei weißen Ziffern. Ich zähle sieben Buchhalter, die konzentriert über ihre Kladden gebeugt sind, insgesamt rund zwanzig Angestellte. Der Wachmann tritt herein, sortiert den Schultergurt seiner Kalashnikov. 

Ein älterer Mann mit grauen Bartstoppeln in einer hellbraunen Jacke ruft uns aus einer kleinen Kammer herüber. Der Übersetzer erzählt ihm, dass ich unbedingt den größten und erfolgreichsten Kath-Händler Somalilands treffen will. "Das ist gut", antwortet der Mann und sagt, dass er für den nächsten Morgen einen Termin mit Faras ausmacht. Ich bedanke mich zum Abschied, reiche ihm die Hand und frage nach seinem Namen. "Abdi Yassin", sagt er. 

Wir gehen zurück zu unserem Auto, setzen uns rein. "Das war er", sagt der Übersetzer. Mit einer App kann er Telefonnummern Namen zuordnen. Er probiert es mit der Nummer, die ihm der Mann gegeben hat. Da steht es: Abdi Faras. Einer der drei größten Kath-Händler hier am Horn von Afrika, wahrscheinlich der größte weltweit. Er sitzt in einer kleinen Kammer auf dem Boden und handelt die Nacht durch mit der Droge, die ihn zum Multimillionär gemacht haben muss. 

Am nächsten Morgen rufen wir wie verabredet an. Er geht nicht ans Telefon. Dann scheint er es auszuschalten. Unsere Anrufe treffen auf eine automatische Ansage. Wir fahren zu seinem Büro. Er sei nicht mehr da. Irgendwann geht einer der unzähligen Anrufversuche doch durch. Der Mann am anderen Ende der Leitung, vermeintlich Abdi Faras persönlich, verleugnet Abdi Faras in der dritten Person: Er sei nicht in der Stadt.